Die Europäische Energieunion: Schlagwort oder wichtiger Integrationsschritt?
Die Schaffung einer europäischen Energieunion ist ein zentrales Projekt der Juncker-Kommission. Die umfassende Definition der Energieunion – welche vo
Die Schaffung einer europäischen Energieunion ist ein zentrales Projekt der Juncker-Kommission. Die umfassende Definition der Energieunion – welche von Energieeffizienz und Klimaschutz über Versorgungssicherheit bis hin zu Wettbewerbsfähigkeit reicht – kann es der Europäischen Kommission ermöglichen, einen tiefgreifenden Kompromiss zwischen den Mitgliedsstaaten zu moderieren. In diesem Prozess sollte Deutschland eine aktive Rolle spielen, da sich die deutschen energie- und klimapolitischen Ziele nur im europäischen Verbund sinnvoll umsetzen lassen.
Die Energieunion ist ein politischer Begriff, der im April 2014 vom damaligen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk geprägt wurde. Der Begriff bezieht sich auf Projekte zur verstärkten Vergemeinschaftung wie beispielsweise im Zusammenhang mit der Europäischen Bankenkrise (insb. Bankenunion und Kapitalmarktunion). Diesen Projekten ist gemein, dass sie ein Bündel verschiedener Maßnahmen beinhalten, um systemische Risiken auf europäischer Ebene besser zu kontrollieren. Anlass für Donald Tusks Vorschlag zur Schaffung einer Energieunion war die Sorge um die Sicherheit der Europäischen Energieversorgung im Zusammenhang mit der russisch-ukrainischen Krise. Allerdings wurde der polnische Vorschlag schnell von anderen Mitgliedsstaaten, der Europäischen Kommission, der Energiewirtschaft und der Zivilgesellschaft als Gelegenheit begriffen, eine umfassende Neuausrichtung der europäischen Energiepolitik zu diskutieren.
GRÜNDE FÜR DIE EINIGUNG AUF DAS KONZEPT
Für die große Wirkung des Konzepts der Energieunion gibt es mehrere Gründe: 2014 war ein wichtiges Jahr für die europäische Energiepolitik. Es wurden die europäischen Energie- und Klimaziele für 2030 beschlossen, die Amtszeit der Barrosso-Kommission endete und der Energiebinnenmarkt sollte vollendet werden. Diese energiepolitischen Wegmarken gingen mit einer Bestandsaufnahme der Energie- und Klimapolitik der letzten zehn Jahre einher. Dabei wurde deutlich, dass der europäische Energiebinnenmarkt an wichtigen Stellen auseinanderdriftet, die Versorgungssicherheit Europas nach wie vor nicht gesichert ist und die Energiepreise deutlich höher als beispielsweise in den USA sind. Auch musste man eingestehen, dass die europäische Vorreiterrolle im Klimaschutz noch nicht zu dem erhofften internationalen Abkommen geführt hat. Die Umsetzung der 2008 beschlossenen Energie- und Klimaziele (20 Prozent Erneuerbare, 20 Prozent Energieeffizienz und 20 Prozent Treibhausgasreduktion) sowie des dritten Binnenmarktpaketes haben also nicht ausgereicht, um Nachhaltigkeit, Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Energieversorgung zu stärken. Somit war es nur natürlich, dass 2014 über eine mögliche Neuorientierung der Mittel und Ziele der europäischen Energiepolitik diskutiert wurde. Des Weiteren trat die Juncker-Kommission am 1. November 2014 ihre erste Legislaturperiode an und versucht, neue Akzente zu setzen. Dass mit Donald Tusk der ‚Erfinder‘ der Energieunion Ratspräsident geworden ist, hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich die Juncker-Kommission die Energieunion dezidiert auf die Fahnen geschrieben hat. So wurde der neue Posten eines Vizekommissionspräsidenten für die Energieunion geschaffen und mit dem Slowaken Maros Sefcovic besetzt. Dessen Aufgabe ist es, die Europä- ischen Kommissare für Transport, Binnenmarkt, Forschung, Landwirtschaft, Klima und Energie, Umwelt sowie Regionalpolitik bezüglich der Schaffung einer Energieunion zu koordinieren. Für den Erfolg des Konzepts einer Energieunion war es ebenfalls hilfreich, dass gerade Polen – welches sonst aufgrund seiner energiepolitischen Partikularinteressen (Subventionen für Kohleförderung und möglichst geringe Treibhausgasreduktionsverpflichtungen) eher als Bremser in europäischen Energiefragen wahrgenommen wurde – eine so weitreichende Diskussion eröffnet hat. Des Weiteren half bei der Einigung auf das Konzept, dass die Politikmaßnahmen, ja sogar die Problemfelder, relativ vage formuliert wurden. Entsprechend brachten mehrere Mitgliedsstaaten und viele externe Akteure Vorschläge zu sehr unterschiedlichen Energiepolitikbereichen in die Diskussion ein. Der ursprüngliche polnische Vorschlag beinhaltete vor allem Maßnahmen zur Erhöhung der Versorgungssicherheit. Insbesondere forderte Tusk die Schaffung einer länderübergreifenden Einkaufsgemeinschaft für Erdgas, um der russischen Marktmacht zu begegnen, sowie eine positivere Neubewertung einheimischer fossiler Brennstoffe wie Kohle und Schiefergas. Das Vereinigte Königreich und die Tschechische Republik griffen den Begriff einer Energieunion in einem Non-paper auf, welches eine Reduzierung des Einflusses Brüssels in der Energiepolitik fordert. Ein deutsches Non-paper hob dagegen die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit im Energieeffizienz- und Klimabereich hervor. Schließlich bedienten sich auch Industrievereinigungen, NGOs und Think Tanks des Begriffes der Energieunion, um ihre Vorstellungen einer europäischen Energie- und Klimapolitik zu verbreiten.
HERAUSFORDERUNGEN DER EUROPÄISCHEN ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK
In der Debatte um die Energieunion wurden fünf grundsätzliche Herausforderungen für die europäische Energie- und Klimapolitik identifiziert. Ausgangspunkt der Debatte um die Energieunion war die Frage der Versorgungssicherheit, welche im Rahmen der russisch-ukrainischen Krise enorm an Brisanz gewonnen hatte. Im Mittelpunkt steht dabei die Sorge, dass der außenpolitische Spielraum der EU und seiner Mitgliedsstaaten durch die Abhängigkeit von russischem Erdgas eingeschränkt wird. Verschiedene Akteure präsentieren sehr unterschiedliche Antworten, wie die europäische Versorgungssicherheit gestärkt werden kann. Diese reichen von der Erschließung anderer außereuropäischer und einheimischer (Schiefergas) Erdgasquellen, über eine verstärkte Nutzung von Kohle und Atomenergie, bis hin zur Senkung der Energienachfrage oder der Umstellung auf erneuerbare Energien. Eine zweite Herausforderung ist die zunehmende Renationalisierung der Energie- und Klimapolitik in der EU. Europäische Instrumente wie der Emissionshandel oder der grenz- überschreitende Stromhandel haben in der letzten Dekade an Bedeutung verloren. Investitionsentscheidungen werden zunehmend auf Basis nationaler Mechanismen (Netzausbau, Erneuerbare Förderung) oder nationaler Märkte (Kapazitätsmärkte) getroffen. Neben den unvermeidlichen Reibungsverlusten bei nicht abgestimmten nationalen Maßnahmen hat die Renationalisierung auch zu einer Zurückhaltung privater Investoren geführt, denen verlässliche Rahmenbedingungen fehlen. Die größte langfristige Herausforderung ist der nachhaltige Umbau des Energiesystems. Allein im Strombereich bedeutet dies weit mehr, als fossile Kraftwerke durch emissionsfreie Kraftwerke zu ersetzen. Es wird immer deutlicher, dass ein CO2-freies Energiesystem das Zusammenspiel von Verbraucher_innen, Erzeugern, Infrastrukturanbietern und Informationsdienstleistern tiefgreifend verändern wird. Dabei ist heute noch nicht absehbar, wie das System letztendlich aussehen wird (z. B. dezentrale vs. zentrale Erzeugung) und wer die Koordinierung dieses Systems übernimmt (z. B. Netzbetreiber, Händler oder Informationsdienstleister). Europarechtliche Rahmensetzungen werden eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung des Transitionspfades spielen. Einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Versorgungssicherheit und der Reduktion von Treibhausgasemissionen wird die Senkung der Energienachfrage spielen. Entsprechende Ziele wurden in der Vergangenheit nur unzureichend erreicht. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage, welche Maßnahmen auf lokaler, regionaler, nationaler oder europäischer Ebene getroffen werden sollen. So scheint es beispielsweise weder sinnvoll, gleiche Dämmstandards für Gebäude in Süditalien und Nordschweden vorzuschreiben, noch wäre es wünschenswert, wenn Elektrogeräte in verschiedenen Mitgliedsstaaten unterschiedliche Energieeffizienzstandards erfüllen müssen. Eine weitere Herausforderung für die europäische Energiepolitik ist die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Hierbei wird einerseits auf die hohen Energiepreisunterschiede zwischen den USA und Europa verwiesen, welche die Wettbewerbsfähigkeit Europas bei energieintensiven Industrien verringern. Dabei wird häufig übersehen, dass diese Preisunterschiede auch in der unterschiedlichen Ressourcenverfügbarkeit in Europa begründet liegen und nicht nur auf Unterschiede in der Energiepolitik zurückzuführen sind. Zum anderen wird der Hoffnung nicht Ausdruck verliehen, dass die Förderung neuer Energietechnologien (insb. Erneuerbarer Energien) die Wettbewerbsfähigkeit Europas in diesem globalen Zukunftsmarkt steigert. Die Herausforderung für die europäische Energie- und Klimapolitik besteht also darin, nicht übermäßig an Wettbewerbsfähigkeit in energieintensiven Sektoren zu verlieren und gleichzeitig die Zukunftschancen bei neuen Technologien zu maximieren.
NÄCHSTE SCHRITTE
Der Vizepräsident der EU-Kommission für die Energieunion war also gefordert, einen ambitionierten, aber nicht unrealistischen Vorschlag für die Schaffung einer Energieunion zu präsentieren, der die benannten Herausforderungen adressiert. Nur etwa 100 Tage nach Beginn der Legislaturperiode wurde ein entsprechender 18-seitiger Vorschlag am 25. Februar vorgestellt. Am 19. März beschloss der Europäische Rat, der vorgestellten Rahmenstrategie der Kommission zu folgen. Zur Schaffung einer Energieunion schlägt die EU-Kommission fünf Dimensionen vor: 1. Energieversorgungssicherheit, Solidarität und Vertrauen; 2. Ein vollständig integrierter europäischer Energiemarkt; 3. Energieeffizienz als Beitrag zur Senkung der Nachfrage; 4. Verringerung der CO2-Emissionen der Wirtschaft; 5. Forschung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Diese Dimensionen werden in 26 Politikinitiativen konkretisiert, welche 2015 und 2016 von der Kommission angestoßen werden sollen. Der Kommissionvorschlag und der Ratsbeschluss sind so formuliert, dass sie sowohl eine grundlegende Neugestaltung der europäischen Energie- und Klimapolitik als auch eine vollständige Kontinuität der bisherigen Politik erlauben würden. Es bleibt also abzuwarten, inwieweit sich die Kommission und die Mitgliedsstaaten (und formal das Europaparlament) darauf einigen können, tiefgreifende Reformen der europäischen Energie- und Klimapolitik in Angriff zu nehmen, welche den Namen Energieunion verdienen. Das optimistische Szenario wäre hierbei, dass es der Kommission mit den fünf Dimensionen gelungen ist, die Fragestellung so weit zu formulieren, dass alle Mitgliedsstaaten durch die Aufgabe sekundärer Forderungen Erfolge in den für sie zentralen Bereichen erzielen können. So wäre es beispielsweise denkbar, dass Deutschland der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Mechanismus für die Förderung erneuerbarer Energien oder verbindlicheren Regeln für Gaslieferungen im Krisenfall zustimmt, wenn im Gegenzug ein starkes Regelwerk („Governance“) für die Erreichung der langfristigen Erneuerbaren und Klimaziele festgeschrieben wird. In einem mittleren Szenario würden die jeweiligen Akteure in jedem Teilbereich voneinander unabhängige Kompromisse suchen. Das impliziert, dass eine qualifizierte Mehrheit mit jeder Maßnahme einverstanden sein muss. Entsprechend würden die Kompromisse wenig ambitioniert ausfallen, viele Ausnahmen für einzelne Länder gemacht werden und keine Konsistenz des Gesamtmaßnahmenpaketes zu erwarten wäre. Eine auch von der Europäischen Kommission vieldiskutierte Lösung wäre eine verstärkte Regionalisierung (im Sinne von Länderblöcken) der Energiepolitik. Der offensichtliche Vorteil ist, dass Länder mit ähnlichen Voraussetzungen eher in der Lage sind, eine gemeinsame Energie- und Klimapolitik zu betreiben. Das Problem regionaler Ansätze ist allerdings, dass sich damit wichtige Probleme nicht lösen lassen: Ein mittelosteuropäischer Gasverbund wird nicht das Problem der Abhängigkeit von Russland lösen. Ein nordwesteuropäischer Stromverbund wäre nach wie vor mit dem Problem einer Windflaute an der Nordsee konfrontiert. Und ein iberischer Erneuerbaren-Verbund würde nicht die notwendige Investitionssicherheit garantieren können. Außerdem besteht die Gefahr, dass regionale Ansätze in verschiedenen Regionen divergierende Pfadabhängigkeiten festschreiben, welche einer Europäisierung der Energiepolitik langfristig zuwiderlaufen. Im pessimistischen Szenario würde die Europäische Kommission nicht genügend politisches Kapital besitzen (oder aufwenden wollen), um einen komplizierten Kompromiss zwischen den Mitgliedsstaaten auszuhandeln. Die Energieunion wäre dann lediglich eine leere Verpackung – getreu dem Motto, je mehr man darüber spricht, desto weniger muss man hinterher tun.
HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR DIE DEUTSCHE POLITIK
Die beschriebenen Herausforderungen sind auch für die deutsche Energie- und Klimapolitik elementar. Sie lassen sich selbst in Deutschland nicht rein national lösen. Und die deutsche Position wird entscheidend zum Erfolg oder Misserfolg der Energieunion beitragen. Daher sollte die deutsche Politik nicht versuchen, diese Debatte zu blockieren, sondern sie in Richtung eines ambitionierten europäischen Kompromisses lenken. Dabei spielt auch der Faktor Zeit eine Rolle, da das gegenwärtige ‚Momentum‘ der Energieunionsdebatte irgendwann in der Komplexität des Themas zu versanden droht. Daher sollte sich die deutsche Politik schnell darüber klar werden, welche ihrer energiepolitischen Positionen nicht verhandelbar sind (z. B. Klimaschutz, Atomausstieg), bei welchen Fragen politischer Spielraum besteht (z. B. Solidarität bei Gaslieferungen) und wo möglicherweise ein ambitioniertes Vorpreschen Deutschlands neue Optionen öffnet (z. B. Strommarktdesign).